Alte Synagoge

GEGEN DAS VERGESSEN (I)
Als ich ins Duisburger Wasserviertel zog, wußte ich nichts über den Boden, auf dem ich nun wohnen sollte. Das Viertel ist eines der sympathischeren der Stadt, Innenstadtnähe, weder proletarisch noch vornehm, weder provinziell deutsch noch stramm türkisch oder russisch (oder, um die anderen wichtigen Duisburger Nationen nicht zu vernachlässigen: albanisch, italienisch, kroatisch, ghanaisch, togolesisch, serbisch, spanisch, portugiesisch, koreanisch), der Krieg hat sogar hier und da eines der reichen, stuckverzierten Gründerzeithäuser stehen lassen, und der Innenhafen mit seinen Attraktionen ist nicht weit. Eine nette Nachbarschaft
…die, genau hier, wo ich lebe, vor 70 Jahren Schauplatz eines der widerlichsten, abstoßendsten Verbrechen wurde, welche die Stadt je gesehen — oder schlimmer: bei der sie zugesehen — hat: Das Wasserviertel nämlich war über Jahrhunderte das Judenviertel der Stadt, jenseits der in Resten noch vorhandenen Stadtmauer, außerhalb der christlichen Gemeinschaft, wo man die Verbrecher und Selbstmörder vergrub, die Schlachter verbannte und die Juden leben ließ. WENN man sie leben ließ. Hier, wo heute ein winziges, assymmetrisches, zeltartiges Kapellchen mahnt, passenderweise von einer Trauerweide fast bis zur Unkenntlichkeit überwuchert, stand einst die 1875 eingeweihte große Synagoge Duisburgs.
Am 8. November 1938 organisierten die Nazis reichsweit jene terroristischen Pogrome, bei denen sämtliche Synagogen Deutschlands in Flammen aufgingen, tausende jüdischer Geschäfte und Privatwohnungen verwüstet und geplündert, zahllose jüdische Frauen vergewaltigt und zehntausende jüdischer Mitbürger verschleppt und in Konzentrationslager verbracht wurden.
Vorwand für die Pogrome war der Tod des Botschaftssekretärs von Rath in Paris — der homosexuelle Nazi war von einem 17-​jährigen jüdischen Stricher erschosssen worden und wurde von den Nazis als Märtyrer aufgeblasen, der dem Weltjudentum zum Opfer gefallen sei. Ein Großteil der Familie vom Raths lebte in Duisburg.
War das der Grund, warum sich die Duisburger besonders eifrig an der Drangsalierung, Erniedrigung und Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger beteiligten und nicht nur, wie sonst oft, stumm glotzend der Drecksarbeit von SA, Polizei und Nazi-​Partei beiwohnten? Kaum, denke ich, auch wenn manche Historiker dies behaupten
Jüdische Bürger wurden bespuckt, geschlagen, beraubt, verschleppt. Duisburg ist einer der Orte, wo man auf die unsägliche Idee verfiel, Juden das Straßenpflaster (vor unserem schönen Theater) mit Zahnbürsten säubern zu lassen. Sadismus, Niedertracht, Habgier, Neid, Haß — die Nazis verstanden es wirklich, das Beste am Menschen hervorzukitzeln!
Insgesamt verloren durch Terror, Schläge, Folter oder Verzweiflungsselbstmord etwa 400 Juden bei diesen November-​Pogromen ihr Leben, Goebbels und Göring organisierten das Verbrechen nicht zuletzt, um die maroden Reichsfinanzen zu sanieren: Den Juden wurde befohlen, den Schaden ihrer Versicherung zu melden — die Entschädigungen wurden dann umgehend beschlagnahmt: Als Sühnesteuer für die feindselige Haltung des Weltjudentums gegen das deutsche Volk. Eine Milliarde Reichsmark wurden auf diese Weise perfide, zynische Weise erpreßt.
Die brennenden Synagogen waren das Fanal: Mit diesem Tag begann, nach Jahren der Hetze, Diffamierung und Ausgrenzung, die systematische Vernichtung des jüdischen Volkes, die Shoah.
Der Zorn Gottes kam über die Duisburger 6 Jahre später: Zwei Tage und Nächte lang machten die englischen Bomberflotten aus Duisburg eine Trümmerwüste.
Es ist friedlich in meinem Viertel. Harmlos. Als wäre nie etwas gewesen. Autos werden gewaschen, Fenster geputzt und Vorgärten gepflegt. Über das Denkmal der Alten Synagoge, heute Teil eines Komplexes protestantischer Gemeinde-​Einrichtungen, wächst, beinahe buchstäblich, Gras. Hier lebe ich in Luxus: Dem Luxus, nicht zu wissen, zu welcher Gruppe ich damals gehört hätte — den Plünderen, den Gaffenden oder den wenigen Gerechten.