Chor des Behindertenwerks St. Jakob

Als ich an diesem schönen und sonnigen Sonntagmorgen, es war der 16. September 2007, vom Central kommend in die Halle des Hauptbahnhofs Zürich hastete, um schnell noch die obligate Bratwurst vor meinem ebenfalls obligaten Zug Chur-​Hamburg zu ergattern, schlug mir eine Sequenz des Requiems in d-​Moll von Wolfgang Amadeus Mozart entgegen. Ob es das Requiem war, weiß ich zwar nicht so genau, aber es musste Mozart sein und es war die Stimme eines gewaltigen Chors, der die Halle zwischen Restaurants und Ticketschaltern erfüllte.
Da ich kein ausgewiesener Kenner und Liebhaber klassischer Musik bin, hätte es auch die «Bohemian Rhapsody» von den Queen sein können oder etwas aus der Rock-​Oper Thommy von The Who. Oder etwas aus der Modernen Klassik, falls Chor-​Elemente da gebräuchlich sind. Egal, es gab zwei Dinge, die mich an diesem Sonntagmorgen völlig überraschten: Ersten wusste ich bis anhin nicht, dass die Hauptbahnhofshalle eine recht ordentliche Akustik hat, was wohl an der schönen Skulptur von Niki de Saint Phalle liegt, die am Bahnhofshallenhimmel schwebt. Zweitens war ich äußerst angetan von einem Chor, den ich bis anhin nicht kannte: dem Chor des Behindertenwerks St. Jakob.
Sie haben richtig gelesen, es gibt Behinderte, die singen, und das fantastisch. Es ist tausend Mal besser als das Geträller bei Dieter Bohlen sucht den Superstar oder Die Confoederatio Helvetica ölt die Stimmbänder, sofern es so was gäbe. Nun werden Sie sagen, dass es unfair ist, einen einzelnen Superstar mit einem Chor zu vergleichen, auch wenn er behindert ist. Da haben Sie Recht, aber nicht ganz. Die Chorgemeinschaft des Behindertenwerks St. Jakob besteht aus bis zu 160 Sängerinnen und Sänger, von denen etwa die Hälfte eine Behinderung hat. Der Chor wurde 1992 durch Fredy Schär gegründet und ihm obliegt auch die Geschäftsleitung. Die musikalische Leitung hat Ueli Häsler, ein renommierter Schweizer und auch internationalen Experte. Das Repertoire besteht aus Chormusik des Barock, der Klassik und der Romantik. Mit Thommy ist also nichts.
Das tut der Sache aber keinen Abbruch, denn der Chor ist aus dem Schweizer Kulturleben nicht mehr wegzudenken, und das mit Recht. Auftritte im Züricher Grossmünster, der Kirchen St. Jakob und St. Peter, dem Fraumünster, der Tonhalle, dem Kloster Einsiedeln, der Stiftskirche St. Gallen, der denkwürdige Auftritt im Luzerner KKL und eben jetzt das Jubiläumskonzert im Hauptbahnhof sind Indiz für seinen ausgezeichneten Ruf. Und wenn wir nochmals auf den einsamen Superstar zurückkommen: jedes einzelne der Chormitglieder kann für sich ganz gut bestehen, denn es wird trainiert von Angela Risi, einer großartigen Sopranistin, und von Meret Burkhard, einer ebenso großartigen Gesangslehrerin und Dirigentin.
Nun würden Sie mich schlecht kennen, wenn ich es dabei bewenden ließe. Behinderte Menschen waren und sind für mich schon immer völlig normale Menschen. Ihnen gehört kein Mitleid, sondern Respekt und Bewunderung. Ich sehe es immer so: sie haben aus irgendwelchen Gründen nicht alle Werkzeuge, die normalerweise da sind, zur Verfügung, machen es aber durch den Einsatz der übrigen völlig wett. In diesem Fall auch durch ihre Stimme, die ich gerne hätte.
Das Behindertenwerks St. Jakob, das natürlich keine kommerziellen Ziele verfolgt, beherbergt übrigens noch andere fantastische Einrichtungen wie eine Schreinerei, eine Flechterei, eine Elektronikabteilung, eine Bäckerei, eine Kelterei, eine Confiserie, ein Café und vieles mehr. Und einen großartigen Gedanken: Jeder Mensch ist auf seine Weise begabt und verdient es, dass seine Talente gefördert werden. Ich glaube, das kann man so stehen lassen.