The Innerspace Studio

KLEINES BOOT AUF OFFENEM WASSER Die Dekonstruktion des totalitären Pathos Wenn alte Männer es noch mal wissen wollen und sich jenseits des Renteneintrittsalters wieder auf die Bühne stellen, um mehr oder minder populäre Musik zu machen, gibt es ca. 5 Möglichkeiten: Es kann das wahlweise a) mittelschwer bis heftig nerven Udo Lindenberg, M. Müller-​Westernhagen, Tom Jones, W. Niedecken, b) extrem peinlich sein Hubert Grölemeyer, Roberto Blanco, M. Jagger, c) ein klein wenig bemitleidenswert ausfallen Peter Gabriel, Pink Floyd, Roger Chapman, d) gruselig bis unheimlich wirken Joopi Heesters, Grace Jones oder aber e) schlichtweg ergreifend (Leonard Cohen, Van Morrisson, Robert Wyatt, evtl. Eric Burdon) werden. Hoch amüsant, voller Esprit, Witz und Ironie ist seine Musik eine unverwechselbare Ausnahme. Ladies & Gentlemen: Holger Czukay, Ex-​Stockhausen-​Schüler, Ex-​Musiklehrer, Ex-​Bassist der legendären Band CAN und heute unangefochten amtierender Dada-​Musik-​Papst. Der hintergründige Anarcho-​Musikkomiker, der schon mal als Pirat (mit zwei Augenklappen!) auftritt und auf der Bühne aussieht wie ein durchgeknallter vitaler Rentner (mit weißem Haupthaar und silbernem Riesenschnauz im Gesicht), dem gerade ein rasanter Ausbruch aus dem Seniorenheim (mit anschließender Sause über die Reeperbahn) glückte, ist heuer siebzig Jahre alt geworden und produktiv wie nie. Gerade hat er das mythenumwobene CAN-​Studio (in dem alten Kino in Weilerswist) wieder übernommen, es restauriert und als The Innerspace Studio neu eröffnet. Hier arbeitet er, und manchmal wohnt er sogar dort. Zwei frische CDs hat der Multi-​Künstler (Bass, Waldhorn, Keyboard, Sampler, Geräusche) gerade neu am Start, und genügend Projekte für weitere kreative Jahre. Czukay hieß eigentlich Holger Schüring unter diesem Namen war er u. a. Musiklehrer am Gymnasium in Quakenbrück, aber dann verschlug es den CAN-​Bassisten und Chef-​Elektroniker eines Tages nach Japan, wo er für einen Whiskey-​Reklame-​Spot den Soundtrack liefern sollte. In dem Spot passierte nicht viel: Ein berühmter japanischer Action-​Held besteigt ein Boot, rudert auf den See und trinkt aus einem Whiskey-​Glas. Holger gefiel das. Und ihm gefiel das Schriftzeichen, mit dem die Szene bezeichnet war: shu kai = kleines Boot auf offenem Wasser. Ob er sich in etwa so fühlt? Jedenfalls blieb dies fortan der Künstlername des Geräusche-​Sammlers, Sample-​Fricklers und Waldhorn-​Jazz-​Spezialisten. Holger Czukay war für mich die definitive Antwort auf die Frage, ob Instumentalmusik komisch sein kann (ja!) oder sogar satirisch und politisch (ebenfalls ja!). Seit der Schlöndorff-​Verfilmung von Grass’ Blechtrommel, in der in einer Szene Held Oskar Matzerath mit seinen Kumpels eine Nazi-​Blas-​Kapelle durch ostentatives Zitrone-​Lutschen ins Chaos treibt, habe ich nicht mehr etwas so wohltuendes gehört wie Czukays Werk The East is Red. Dōngfang hóng, tàiyáng sheng, Zhōngguó chu liao ge Máo Zédōng, Ta wèi rénmín móu xìngfú, Hu ěr hei yo, ta shì rénmín dà jiù xng! [Der Osten ist rot, die Sonne geht aufChina hat Mao Zedong hervorgebracht. Er plant Glück für das Volk, Hurra, er ist der große Erlöser des Volkes!] so lauteten die ersten Worte der pathetischen Kitsch-​Hymne zur Vergottung des Blutsäufers Mao, von hunderttausend fanatisierten, aufgeputschten Rotgardisten auf dem Tienanmen-​Platz intoniert, während der größte Massenmörder des 20. Jahrhunderts huldvoll vom Tor des Himmlischen Friedens herabgrinste. Tja, Pech, bei der Planung des Glücks für das Volk konnte Diktator Mao Zédong auf das Volk selber leider keine Rücksicht nehmen. Allein bei den Ausschreitungen und Irrsinnsexzessen der von Mao aus persönlichem Machthunger inszenierten Großen Proletarischen Kulturrevolution sind 10 Mio. Menschen umgekommen: erschlagen, erschossen, verhungert, durch Zwangsarbeit vernichtet. Insgesamt sollen nach vorsichtigen (westlichen) Schätzungen 70 Millionen Menschenleben auf das Konto Maos gehen, des Großen Vorsitzenden und Großen Steuermanns. Des Mannes, dessen Wirken die heutige KP-​Führung in Peking noch immer zu 70% gut findet. Das totalitäre Loblied auf Mao habe ich seinerzeit auch passioniert mitgesungen, man weiß das, und auch, daß ich mich für meine damalige Vernageltheit in Grund und Boden schäme. Daß Tausende europäischer Intellektueller, auch namhafte, genau so blöd waren, hilft einem ja nicht wirklich weiter Mit um so größerem Vergnügen höre ich, was Holger Czukay seit 1984 aus der Mao-​Hymne macht. Er muß keine Zitronen lutschen. Er rückt dem Machwerk buchstäblich mit Pauken und Trompeten zuleibe, zerlegt den Machthaber-​M-​arsch in Einzelteile, setzt sie neu zusammen und entstellt es bis zur Kenntlichkeit. So eine musikalische Dekonstruktion totalitären Pathos’ ändert vielleicht nicht den Weltlauf, aber die Hörenden macht es sensibler für den Brutalo-​Kitsch der Macht. Das Stück hätte es verdient gehabt, bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking aufgeführt zu werden! Schade, da hat die chinesische Führung eine