Classik

Viele Jahre kehrte ich hier ein. Nach getaner Arbeit schlürfte ich an einer Tasse Kaffee am Nachmittag und verschwand mit der Lektüre auf dem Tisch, nur meinen Körper ließ ich auf dem Wiener Stuhl. Eine sagenumwobene Geschichte eines Scheichs aus dem Spätmittelalter hatte mich seit meiner Hauptschüler-​Jahre immer schon fasziniert. Jetzt verfolgte ich ihn. Täglich, am Tisch Nr. 1, etwas versteckt von der Tresenkraft, kam mein bärtiger Scheich und setzte sich auf den Heizkörper und ließ sich bereitwillig ausfragen über die religiöse Toleranz, die ihn an einem regnerischen Tag bis an den Galgen gebracht hatte.
Mit Fragen wachsen selbst mittelalterlichen Quellen gesprächige Zungen. Und hat sich eine Frage mal im Kopf eingenistet, ist sie wie ein Same. Sebstverständlich kann aus ihr eine hübsche Zimmerpflanze wachsen. Doch nicht selten sind die Fälle, wo sie wuchern und bald den fürsorglich gepflegten Garten unseres Gehirns in Besitz nehmen.
Drei spendeten mir dabei ungefragt ihre ständige Gesellschaft: Zucker, Salz und Pfeffer. Sie wurden auf dem Tisch hin und her geschoben und suchten auch.
Gegessen habe ich hier sehr wenig, auch der Kuchen blieb vor mir sicher. Auch habe ich nie den getrunken Kaffee gezählt. Manchmal nickte die Chefin der Kellnerin zu und schrieb mit der Hand auf einen virtuellen Zettel und schüttelte leicht den Kopf und meinte damit, ich solle nicht abkassiert werden. Auch sonst wussten wir selten genau, wer hier was bezahlte. Irgendwann, wenn ich sitzen blieb, war der Tisch bald nicht nur von Büchern bevölkert, sondern auch von Getränken hinzugekommener Freunde. Viele trafen sich und diskutierten mit einem merkwürdig melancholischem Eifer meinen Scheich. Bald wurden Regierungen gestürzt, Analysen angefertigt und ganze Systeme durch neue ersetzt, begleitet von Kaffee, Bier, Whisky, Tee und Zigarette bis das Schachspiel ausgepackt und die Figuren aufgestellt wurden. Oh, wie oft wartete ich, mein König auswegslos eingeklemmt zwischen feindlichen Agreifern, dass jemand durch die Tür käme und kraftvoll, vielleicht ganz in Alkohol eingehüllt meinen Tisch umkippte, damit ich dem Schach-​Matt entgehe.
Unser Psychologe berichtete manchmal von seinen dunklen Fällen, unser junger Dichter trug ein Gedicht bei und wenn B. in Berlin war, ließ sich die Frankfurter Schule nicht mehr ausklammern. Spät am Abend beklagte sich regelmäßig unser Dichter aus Luxemburg über die Qualität seiner Weißweinschorle.
Classik war lange die zweite Heimat einer suchenden zweiten Migrantengeneration in Berlin. Wir verabredeten uns nicht, wir trafen uns. Hier lagen mehr Dissertationen auf dem Tisch, als bei vielen Professoren; viele Texte erhielten hier ihre erste öffentliche Taufe.
Tschüß, nachträglich!
Nachher übernahm ein anderer den Laden, änderte Classik in Klassik und machte den Kaffee teuerer, denn er wollte eine feinere Schicht ansprechen. Wir rutschten einige Cafés weiter, er blieb alleine und machte bald auch dicht.
Ich würde lügen, wenn ich sagte, es tat nicht weh, Classik geschlossen zu sehen.